10.09.2006
{NP} Als ein Stern vorbeiflog...
Gelangweiltes Sitzen an der Bar. Nackte Menschen im Rücken vorbeiwuselnd, sich präsentierend. Nach Aufmerksamkeit lautlos schreiend. Demonstration von scheinbar wollüstigem schamlosen Fleisch und doch in den Augen die Trauer des Lebens an sich. Er ist auch nicht anders. Oder doch ein wenig? Die Gedanken auf diesen Punkt lenkend um dann doch durch den Fleck auf dem Tresen wieder abgelenkt zu werden.
Musik hämmert mit Wattebass quer durch seine Gehörgänge. Unreflektiert, unregistriert, uninteressiert. Quirlige Tote, der Geruch der Banalität überdeckt von modischen Designerdüften wabert in abwechselnden Noten an seiner Nase vorbei. Manchmal eklig süß, manchmal totenherb. Nie eigenständig, immer den eigentlichen Mensch versteckend. Versteckend wie sich selbst, denn nur im trauten Kreis wird gelebt für Minuten, ein paar Stunden, eine Nacht...
Es würgt ihn. Es widert ihn an. Das Gefühl von Tod legt die Hand auf seine Schulter. Immer gleiches, immer verlogenes, immer ekelhaftes. Egal wo er hinblickt. Gegenüber ein Spiegel an der Wand. Schlechtes Glas gefasst in Plastikrahmen auf Alt und Gold getrimmt. Er sieht sich selbst in die Augen, nein, das ist er nicht. Das darf er nicht sein! Schon so angepasst?
Er hebt den Kopf und sieht ohne Ziel in den Raum. Betrachtet Bilder an der Wand. Vorspiegelungen einer Welt die genauso irreal ist hier wie draußen; Tag und Nacht alles gleich, alles ohne Esprit, keine Veränderung, nichts was sein Hirn zur Aktivität anspringen lässt. Nichts was das Gefühl von Leben den entscheidenden Anstoß gibt noch mehr sich zu unterscheiden, Ziele zu setzen die neu definiert werden müssen. Neue Horizonte zu erforschen, selbst sein in der eigenen Sehnsucht. Und immer wieder Fleischstücke auf zwei Beinen die seinen Blick kreuzen. Sich aufdringlich durchsichtig an seinen Empfindungen vorbeischieben, seinen Gedankenfluss vergewaltigen.
Sein Blick streift weiter, unbewusst zu der entferntesten Ecke des Raumes und erstarrt. Nein, nicht erstarrt, eher ein "Hallo, wach mal auf", nein auch das nicht. Die Lethargie fällt einfach ab wie getrockneter Schlamm. In großen Stücken, nicht im Ganzen, nicht vollständig, doch groß genug dem Geist, den Sinnen ein Aufwachsignal zu befehlen. Er erschrickt über sich selbst. Was ist das? Was hat das Auge gesehen? Zurückspulen der letzten Bruchteilen von Gesehenem. Das Auge erstarrt. Das Gehirn erstarrt. Das Gefühl erstarrt. Nur leise, ganz leise spürt er seit langer Zeit sein Herz in einem anderen, weiteren Rhythmus hämmern. Schwer genug, denn es schlägt schon für zwei Menschen. Und doch aus Gewohnheit so vertraut, dass es nicht mehr allgegenwärtig wahrnehmbar für ihn ist. Für sich selbst und dem an seiner Seite.
Ein dritter Takt! Es läuft unrund. Gefährlich unrund. Dazu die Glocken, Glocken des Alarms, die des Misstrauens, der Ungläubigkeit, Glocken gegossen aus dem Stoff der Enttäuschung. Glocken der Angst vor Wahrheiten und Gefühlen. Begierde macht sich auf seinen Körper zu erobern. Es kommt vom Nacken der sich leise sträubt, breitet sich über die Schultern hinab zu den Fingerspitzen aus, um wie ein Blitz weiter über die Wirbelsäule bis zum Schwanz zu rasen. Seine Augen saugten sich fest. Seine Sinne vibrierten. Der Körper und Geist erwachte.
Er hebt sein Gesicht, die Nase witterte wie vor Urzeiten vielleicht der Instinkt vorgegeben hatte, die Hände bekommen ein Eigenleben. Sinne, Gedanken, Fantasien, Gelüste, alles auf einmal schießt ihm durch ihn hindurch wie zu viel Strom. Zuviel Energie. Er wendet sich von der Ecke ab. Das gerade gesehene Bild das sich in sein Gehirn gebrannt hatte nochmals abrufend. Ungläubigkeit des Ereignisses. Irrationale Gefühlswelt. Verwirrung. Jagdinstinkt mühsam unterdrückend. Nein, das darf nicht sein. Er ist zu alt. Er ist zu hässlich. Er ist zu arm. Er ist nicht attraktiv genug. Er hätte nichts zu bieten was wichtig und wertig wäre und doch...
Blaugrüne Augen kreuzen uninteressiert seinen Blick. Piercings und plumpe Schuhe versuchen seine Empfindungen wie gewohnt zu Dämpfen. Blondes, langes Haar, ein herrlicher Körper in seinen Augen, Brüste verführerisch lockend. Vergeblich. Es ist in ihm eingebrannt. Dauerhaft und bestimmt, für lange Zeit in der Region Sehnsucht. Kurze Fingernägel, kleine, niedliche Brustwarzen, Ton in Ton, das kleine Röllchen neben den Schulterblättern sehr wohl unbewusst registriert, das kleine Mal auf der Stirn.... Registriert in einem Hundertstel einer Sekunde- eingebrannt in der Region wo der Teufel regiert... Lippen die er berühren möchte, sanft mit aller Härte zu der er fähig ist... Der Arsch leicht von links anzusehen, herausfordernd schreiend- er ist zu schön, ich will bluten! Nein!!! Er wendet sich ab, sieht wieder in sein Glas. Er hat sein Leben akzeptiert. Nein, er strengt sich nicht mehr an für aussichtslose emotionale Schlachtfelder. Nein, er ist nicht müde von der Pirsch. Es sind andere Dinge die ihn ruhig halten. Erfahrungen, Erkanntes, Durchlebtes, traurig Machendes.
Ruhig. Ja! Immer ruhig sein, anderes ist vergeudete Energie. Nicht mehr kämpfen, nicht mehr aufbegehren. Den Rest der Zeit einfach hinnehmen. Akzeptieren, denn alles ist wichtig auf dieser Welt. Nur der Mensch, der Mensch wirklich nicht. Und schon gar nicht er selbst. Ober! Zahlen, gehen. Eigentum! Wir gehen... Leicht verwunderter Blick, nicht mal selbst regiestierend- egal...
Monate später. Lange Monate...
Stammtischtreffen. Er hasst diese Treffen. Menschenansammlung von Pseudogleichgesinnten. Weich gespültes konform eingestanztes Verhaltendenkens. Er hat Besuch dabei. Führt ein, liebevoll weil noch zu Stino. Langeweile und neue Kontakte knüpfend, die sowieso nie etwas an Wert haben. Duldend sitzend. Duldend erklärend. Duldend Smalltalk. Gelangweilter, fast schon obszöner Blick durch die Runde. Immer die selben Gesichter. Keine für ihn. Immer die selben Menschen, nicht für ihn. Immer das selbe wichtige Getue, nicht für ihn. Gähnen! Um dann sich fast zu verschlucken!
Rekapitulierte Reaktion! Sie steht vor ihm! Unverfänglich und aufreizend unschuldig. Erster Impuls, aufspringen, losstürmen, entführen! Weg von all den möglichen Gefährlichkeiten, Konkurrenten, Mitbuhlern. Er bleibt sitzen, offiziell teilnahmslos, neutral. Cool und arroganter Habitus- die Hände fangen an zu schwitzen. Verdammt! Und diese Hitze auf einmal die sich den Rücken entlang nach oben und unten ausbreitet. Peinlich. Gedanken aus Jugendzeiten schießen ihm parallel durch den Kopf. Erster Kuss, erstes Fummeln, zittrige Finger die versuchen Blusenknöpfe unbemerkt zu öffnen um die Tittchen der Begierde endlich einmal berühren zu können. Sie sieht ihn an. Oh Gott! Sie kommt auf ihn zu! Flucht! Er will nicht dass sie ihn so wittert. Zu spät! Sie kommt ihm sehr nahe. Ein Kuss gehaucht auf seine Wange. Er schließt die Augen. Schließt die Berührung, ihren Duft in sein Hirn ein.
Sie geht wieder. Setzt sich auf Schöße anderer. Spielt. Spielt ihr Spiel. Spielt mit den Begehrlichkeiten der anderen. Weiß es, genießt es. Offensichtlich. Sie fliegt weiter. Eine andere Schönheit in Besitz nehmend, diese küssend, Wollust signalisierend, verbreitend. Provokant? Nein, ihre Art des Lebens. Ihr Spiel. Es stört ihn. Zorn kriecht leise in ihm empor um sich dann in sentimentale Trauer zu verwandeln. Er ist zu alt geworden, zuviel erlebt, zuwenig gegeben, zuviel sich einfach nur genommen. Die Spuren deutlich in seinem Gesicht.
Bedienung! Zahlen!
Auf dem Heimweg das Gesicht von ihr in seinen Gedanken. Diese Nacht wird gut für ihn. Er freut sich auf seinen Traum, dieses Mal wenigstens...
Ein Stern flog vorbei...
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